Die Ortsunschärfe der Krone

Ein Tag kann unglaublich viel enthalten. Schon zu Mittag war er voll genug, und ich hätte mich gut und gerne ins Bett legen und Eindrücke im Traum verarbeiten können. Stattdessen schleppte ich mich nach dem Eisessen mit den netten neuen Bekannten durch die Altstadt, um mich zum Zug zu schleppen und mich dann vom Zug nach Hause zu schleppen.

Was ist es nur, das mich so erschöpft? Sind es Sorgen, die sich noch nicht bis ins Bewusstsein durchgearbeitet haben? Ist es schlicht die Umwandlung von körperlicher Belastung in Form einer Schultertasche mit unglaublich schlechter Druckverteilung in seelische Belastung? Oder war meine Reizschwelle in diversen Übungen und Gesprächen im Seminar einfach schon erreicht?

Interessante Beobachtung an mir selbst: Wenn ich müde bin, scheint sich der Bauch auszuschalten und nur noch der Kopf zu agieren. In der Mitte kommt dann nichts mehr an. Einzig guter Humor hat noch Chancen, sich durchzuschleichen bis in mein Inneres. Grandios: Der trockene Gunkl-artige Humor des Physikers. Eine sehr interessante Weltsicht, welche die Basis für viele gute Unterhaltungen sein kann.

Kurz davor, das letzte Spiel in der Seminargruppe: "Gesagt ist nicht verstanden." Stille Post mit Bildinformationen. Eine Zeichnung mit Text wird durch zehn Personen gefiltert und weitergegeben. Als vorletzte betrete ich den Raum und lasse mir von meiner Vorgängerin ihre spärlichen Informationen mitteilen. Da ich nachfragen darf, will ich klarstellen, welcher der beiden Männer in dem Bild denn die Krone trage. Sie: "Das ist egal." Ich grinse. Interessante Formulierung. Ob sie es wohl nicht weiß? Und ob schon sie von ihrer Vorgängerin die Gleichgültigkeit mitbekommen hat? Der Physikus betritt das Zimmer, ich beschreibe ihm das Bild genauso, wie ich es beschrieben bekommen habe. Auf der Stufe ist das keine große Kunst mehr - drei Sätze merkt man sich leicht auswendig. Auch er fragt nach: "Wer trägt denn die Krone?" Ganz gewissenhaft informiere ich ihn: "Das ist egal." Es bricht aus ihm heraus: "EGAAAAL??!!??!!" Das mathematisch-logische Entsetzen wabert in der Luft. Die Hälfte der Teilnehmer wirft sich fast von ihren Stühlen vor Lachen.

Aber irgendetwas gibt es, das mich ermüdet. Das Unangenehme passiert immer unangekündigt. Beinahe zuhause stehe ich an der Ampel und schalte während des Wartens den Ton an meinem Handy wieder an. In einer Schrecksekunde erkenne ich Kelly Bundy vor mir, die sich in derselben Sekunde umdreht. Ich bin noch nicht zu den Heiligen übergetreten, die alle Welt sympathisch finden können. Kelly Bundy ist äußerst unangenehm. Unter allen Schülerinnen war sie wohl die nervigste und anstrengendste, die ich je erlebt habe. Ich schaue sofort wieder auf mein Handy, gebe mein Erkennen nicht zu erkennen. Sie flüstert ihrem Begleiter zu: "Das ist die..." Noch immer denkt sie, Erwachsene wären taub. Ich bin deprimiert. Viel zu müde, um irgendetwas zu tun, außer vorzeitig abzubiegen und einen anderen Weg nach Hause zu nehmen. Kelly ist wirklich nicht weiter erwähnenswert. Aber durch unser kurzes und vergessenswürdiges Zusammentreffen sind ein paar alte Gedanken wieder aufgetaucht. Manchmal ist es schwer, die Männerwelt zu verstehen. Nein, in diesem Fall die Buben. Es laufen so viele hübsche und schöne Mädchen herum; dann ist da eine, die aussieht wie eine Puppe, auch mit dem Verständnis einer Puppe in den Augen, und sie wird als Schulschönheit empfunden. Das könnte einem egal sein, wenn nicht viele andere Mädchen sich an dem orientieren und geknickt sein würden, weil sie nicht so aussehen, sondern normal und von innen strahlend. Ich verstehe es nicht. Da kommen wohl auch meine ureigenen Erlebnisse aus der Pubertät wieder, als auch ich nicht verstand, warum die Schrecklichen Fünf immer viel angesehener waren als die normalen Mädels. Als ich neulich meine nun in der Stadtpolitik weilende frühere Klassenkameradin sah, spürte ich noch immer denselben Stich, als sie mich mit Dolchaugen anblickte. Die selbstsicherste und unabhängigste Frau kann manchmal 20 Jahre zurückversetzt werden und sich daran erinnern, wie sie den Sturschädel-Tyranninnen etwas Böses gewünscht hat.

Wo war ich? Wenn ein Gefühl ein paar Tage lang da ist und plötzlich, wenn man sich mit den Visionen und den Themen beschäftigt, die das Feuer in einem brennen lassen, wieder verschwunden ist, was bedeutet das dann? Ist das ein temporärer Verlust aufgrund akuter Reizüberflutung? Ich kann es nicht lösen und werde es wohl sein lassen, bis sich mein Bauch wieder meldet.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Heartthrob County
Es gab einmal eine Zeit, da dachte ich, der atemberaubendste...
ronjavondermattisburg - 24. Jan, 00:44
Shush?
Es ist wohl eine zutiefst menschliche Eigenschaft,...
ronjavondermattisburg - 11. Okt, 03:58
Misconception
Vielleicht ist der tiefste aller zugrundeliegenden...
ronjavondermattisburg - 10. Mär, 21:50
Good Wife
Am Ende des Gesprächs steht die Erkenntnis: Ich bin...
ronjavondermattisburg - 7. Dez, 23:18
Origin of love
Manchmal vermisse ich das Schreiben wie wahnsinnig....
ronjavondermattisburg - 20. Aug, 01:42

Links

Suche

 

Status

Online seit 5345 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Jan, 00:44

Credits


Räubergeschichten (aus dem Mattiswald)
Steine
Welcher Film läuft heute in der Burg
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren