Flieg, Ikarus

Als sich die Sängerinnen und Sänger nach der Probe verabschiedeten und zerstreuten, da sah ich in Julis Augen wieder diesen Blick. Vor Monaten war er da zum ersten Mal gewesen, gestern wieder. Er sagte, du fährst nicht mit der Bahn, wenn er da ist, sondern mit ihm, und ich weiß, warum. Ich stand neben S, wartete, sah den Blick und dachte, aber dieses Mal ist es anders. Wenn du früher vielleicht eine positive Antwort in meinen Augen gesehen hast, dann nur die letzte Hoffnung, den nicht ersterbenden Wunsch, dass doch irgendwann einmal das Märchen wahr wird. Und die Hoffnung, dass du damit, dass du etwas siehst, Recht hast, nicht nur die Vergangenheit und meine Gefühle siehst, sondern auch die Bestimmung.

Wenn ich nur eines gelernt habe in den letzten Monaten, dann dies: nur Offenheit bringt mich weiter. Offenheit mir und meinen eigenen Empfindungen gegenüber. Offenheit meinen Grenzen und Ängsten und Offenheit meinen Mitmenschen gegenüber. Nicht blinde, undiskriminierende Offenheit, sondern Vertrauen in das Außen und das Andere.

Was Juli sah, war keine Phantasterei. S und ich waren - und sind durch das "waren" - auf eine Weise verbunden, die nicht bloß Freundschaft ist, jedoch auch nicht Paar oder Ex-Paar, was für so viele die einzig logischen verbleibenden Möglichkeiten sind. Ich habe den Kern des Glaubens, dass das Besondere, was ich in seiner Gegenwart und in seiner Person fühle, für mehr bestimmt ist, lange in mir getragen. Habe das, was ich hatte, als entfernt empfunden. Erhielt immer wieder - echte oder eingebildete - Impulse, die die Besonderheit in mir festigten. Ich ging einen Weg mit winzig kleinen Schritten. Er sollte zu mir führen, weg von Angst und Selbstzerfleischung, und er führte mich auch immer weiter zu emotionaler Nähe. Mit M. Als ich irgendwann endlich das starre Konzept des Entweder-Oder losließ und es sein ließ, was es war, da war plötzlich alles viel schöner - und auch S noch viel plastischer, präsenter, mir zugewandter.

Ich gebe zu, ein Teil von mir hat sich dumm und dämlich - und sooo lebendig - gefreut, dass das, was zu Beginn nur ein Blitz in einer Synapse war, immer mehr und mehr zu einem Menschen wurde, der nicht nur da ist, sondern mit mir interagiert. Und hat sich Hoffnungen gemacht, dass meine Änderung jetzt diese Änderung bewirkt hat, diese eine notwendige. (Plötzlich steht Ronja da, und sie steht auf der anderen Seite des Höllenschlunds.) Und ein Teil von mir sagt, dass ich einfach zu bequem bin, um etwas aufzugeben, das meinerseits so viel Arbeit mit mir selbst erfordert hat, so viele übersprungene Hürden. Dass ich mich mit dem Zweitbesten zufrieden gebe, weil er auch gut ist. Aber eben nicht der Richtige. Und dass auch S das denkt.

Doch dann kommt die Einsicht über mich, dass, tatsächlich, nicht die Welt da draußen mir nie denjenigen beschert hat, der zu mir gehört und gehören will, sondern dass ich durch die falsche Brille geschaut habe. Und dass es schon seine Richtigkeit hat, dass mein Bauch mit dem zusammen sein will, mit dem ich zusammen bin.

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